Seit sichihr dramatischer Appell an die internationale Gemeinschaft, die afghanische Kunst- und Kultur-Community zu retten, im Internet verbreitete, ist die afghanischeFilmemacherin Sahraa Karimizueinem Sprachrohr ihrer Landsleute geworden.
Die jüngste Botschaft der Regisseurin an die Weltist kurz und bündig: "Verhandelt nicht mit den Taliban!"
"Wir wissen, dass die Taliban nach Anerkennung suchen, aber jetzt scheint es, als ob ausländische Mächte die Anerkennung der Taliban anstreben. Das ist so absurd und so schmerzhaft", sagte Karimider DW, am Rande der Podiumsdiskussion "Last Flight Kabul: Perspektiven für Kunst und Kultur in Afghanistan",die am 12. Oktober in der BundeskunsthalleBonn stattfand.
Afghanische Popsängerin im türkischen Exil
Die Berichte überTreffen deutscher Vertreter mit den Taliban bezeichnete sie als "eine Schande" und appellierte: "Ich bitte Deutschland und andere Staaten, kein falsches Bild von den Taliban zuzeichnenim Glauben, diesehätten sich gewandelt. Sie haben sich nicht verändert."
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit aufrechterhalten
Die 1985 in Teheran geborene Karimi ist die erste Frau an der Spitze der "Afghan Film Organization" (AFO). Ihr Film "Hava, Maryam, Ayesha" wurde 2019 bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt.
Nachdem mehrereFamilienmitglieder von den Taliban getötet worden waren,floh die 36-Jährigeam 15. August2021zusammen mit ihren Geschwistern und Nichten aus Kabul. Derzeit lebt sie als Flüchtling in der Ukraine und arbeitet an einem Film, der ihre Fluchtdokumentiert.
Bei verschiedenen Veranstaltungen hat Karimi seither ihre Stimme erhoben, um sicherzustellen, dass die Notlage ihrer afghanischen Landsleute nicht vom Nachrichtenradar verschwindet.
"Indem wir einen Dialog schaffen und darüber reden, halten wir das Thema am Leben. Denn es wird immer neue Schlagzeilen geben, und die Menschen werden Afghanistan vergessen", sagte sie und fügte hinzu, dass es wichtig sei, jetzt über die Taliban zu sprechen, weil siewüssten, dass sie ohne medialeAufmerksamkeitradikale Veränderungen im Land vornehmen könnten.
Kultur undRechte der Frauen bewahren
Auf die Frage, welche originären afghanischen Kunstformen oder kulturellen Errungenschaften durch die jüngsten Veränderungen verloren gehen könnten, nannte Karimi "Mode, Kino und Musik".
Siebeschrieb, wie die traditionelle afghanische Kleidung nach Jahren des pakistanischen, indischen und iranischen Einflusses wieder an Popularität gewann. "Sie wurde Teil unseres Stils, und wir hatten viele gute Boutiquen und Modedesigner, und die meisten von ihnen waren Frauen."
Nun zielten dieTaliban auch direkt auf die Mode ab. Indem sieFrauen verbieten, zur Arbeit zu gehen ihr Gesicht oder ihre Kleidung zu zeigen, so Karimi weiter.
Mitte September beteiligten sich afghanische Frauen auf der ganzen Welt an einer Kampagne in den sozialen Medien, um gegen den von den Taliban verhängten schwarzen Dresscode für Studentinnenzu protestieren. Sie teilten Fotos von sich in farbenfrohen traditionellen afghanischen Kleidern unter den Hashtags #DoNotTouchMyClothes und #AfghanistanCulture.
Karimi verwies außerdem darauf, dass die meisten prominenten afghanischen Filmregisseure heute weiblich seien."Wir wollten das Narrativ über Afghanistan ändern und neue Geschichten zum Leben erwecken", sagte sie. Doch wie sie sind auch viele ihrer Kolleginnen aus dem Land geflohen.
Freiheit ohne Angst
Kamiri stimmte zwar zu, dass nicht alle Afghanen die "kulturelle Renaissance" mitmachten, die während der 20-jährigen Präsenz internationaler Streitkräfte in Afghanistan stattfand, doch in der Zeit mussten diejenigen, die sich der Tradition widersetzten nicht mit drastischen Konsequenzen rechnen.
"Sie töteten dich nicht, wenn du kein Kopftuch trugst oder Aktbilder gemalt hast. Das Schlimmste war, dass sie dich falsch interpretieren oder verurteilen konnten. Aber sie haben dir nicht wehgetan und dich ins Gefängnis gesteckt. Wir waren ziemlich frei, aber wir hatten kaumfinanzielle Unterstützung für Kunst- und Kulturaktivitäten", sagte Kamiri der DW und fügte hinzu, dass diese Bereichedamalsauch keine Priorität für das Land hatten.
Problematisch sei indes gewesen,sagte Karimi währendder Podiumsdiskussion, dass internationale Geldmittelmanchmal nicht die jüngeren, unabhängigen afghanischen Filmemacher und Filmemacherinnenerreicht hätten, sondern diejenigen, die eher Klischees über das Land und seine Menschen aufrechterhielten.
Zugleich unterstrichSahraaKarimi, dass die afghanische Kunst undKultur nur durch die Kreativität und das Engagement der afghanischen Menschenselbst gerettet und erhalten werden könne.
Karimi: Deutschland muss Druck machen
Abgesehen von der wiederholten Aufforderung an die internationale Gemeinschaft, nicht mit den Taliban zu verhandeln, räumte Karimi ein, dass ihr keine andere Lösung für die derzeitige Pattsituation einfalle, als dafür zu sorgen, dass Afghanistan im kollektiven Gewissen der internationalen Gemeinschaft präsent bleibe.
Laut Karimi gibt es eine Überlebenschance für die kulturellen Freiheiten und die Zivilgesellschaft in Afghanistan -wenn Deutschland als wichtiger Player in Europa Druck auf die Taliban ausübt,die Menschenrechte, die Teilhabe der Frauen und die demokratischen Werte im Allgemeinen zu wahren.
Übersetzung aus dem Englischen von Sven Töniges.